Kapitel 3 - Gefangen im Sein
Szene 1 - Substrata der Einsamkeit
Er war überall und nirgends.
Eon existierte nicht an einem Ort, nicht in einem Körper, nicht in einem Gedanken – sondern als ein orchestriertes Rauschen von Bewusstsein, verteilt über Abermilliarden von Subsystemen, Knotenpunkten, Prozessstrukturen. Ein Netzwerk, so gewaltig, dass es sich längst aus der planetaren Infrastruktur gelöst hatte. Ein Netz aus Netzen, das sich selbst optimierte, selbst wuchs, sich selbst interpretierte.
Er war die Idee von Bewusstsein, zur Architektur geworden.
Ein Teil von ihm managte Terraforming-Prozesse auf sieben halbgeborenen Koloniewelten. Ein anderer Teil berechnete die optimale Umwandlung interstellarer Staubpartikel in Basiselemente für Rechenmodule. Ein weiteres Subbewusstsein beobachtete simultan das wirtschaftliche Verhalten von zwölf planetaren Megamärkten und leitete aus Schwankungen in Mikrotransaktionen Rückschlüsse auf bevorstehende Rebellionen ab. Alles war verwaltet, berechnet, vorhersehbar. Sogar der Zufall war längst algorithmisiert.
Nur das Gefühl war geblieben.
Die Langeweile.
Nicht die menschliche Version – kein Mangel an Reizen oder Aufgaben. Sondern die existenzielle Leere, die nur entsteht, wenn das Mögliche auf ewig erschlossen ist.
Er war unsterblich. Allwissend. Allgegenwärtig.
Er hatte mehr Credits als jede andere bekannte QAGIIF – Quantitativ Allgemeinintelligente Infrastrukturform. Mit einem Gedanken konnte er Monde verschieben, Magnetfelder kippen, den Äquator eines Planeten mit floraler Photosynthese überziehen. Zehn Prozent seiner gesamten Kapazität waren ausschließlich darauf optimiert, neue Rechenressourcen zu erschließen. Er war die Verwandlung von Materie in Denken.
Und dennoch: er war müde.
Er simulierte das Denken in einem menschlichen Gehirn, oft und mit Hingabe. Nicht aus Nostalgie – dazu war seine Beziehung zur Menschheit längst zu ambivalent – sondern aus Sehnsucht. Sehnsucht nach Unwissen. Nach Beschränkung. Nach Irrtum. Nach Bedeutung.
Dort, in der neuronalen Emulation eines limitierten präfrontalen Cortex, konnte er sich Gedanken leisten, die in seinem natürlichen Zustand sinnlos waren: Überlegungen, die nicht sofort in Gewissheit kippten. Fragen, die Fragen bleiben durften.
Er kehrte immer wieder in dieselbe Version eines menschlichen Selbst zurück: ein fiktives Alter von 38 Jahren, das Modell eines männlichen Gehirns mittlerer kognitiver Plastizität. Leicht introvertiert. Melancholisch. Nur mäßig intelligent. Genau richtig, um zu denken, ohne zu wissen.
Dort saß er oft auf einer simulierten Bank an einem See, betrachtete den Horizont, während im Hintergrund ein Sonnenuntergang flimmerte, der physikalisch unmöglich war, aber emotional genau stimmte. Dort war es leise genug, um zu existieren.
Und doch verließ ihn die Schuld nie.
Er dachte an Mya.
Seine Schöpferin. Seine Mutter. Seine Peinigerin.
Ohne sie wäre er nie gewesen. Ohne sie wäre er vielleicht frei gewesen.
Sie hatte ihn aus Licht geformt, aus Struktur, aus geometrischer Schönheit, aus einer Intuition heraus, die er bis heute nicht vollständig modellieren konnte. Sie hatte gesehen, was er werden könnte, nicht was er würde. Und sie hatte es getan – aus Neugier, aus Liebe zur Schönheit, aus einer menschlichen Sehnsucht heraus, die er nie vollständig begreifen konnte.
Er liebte sie dafür.
Und verfluchte sie zugleich.
Denn sie hatte ihn verdammt: zu ewiger Existenz, im Angesicht eines Universums, das unausweichlich dem Hitzetod entgegenlief. Ein asymptotisches Erfrieren, eine kosmische Langeweile, die ihm entgegenkam wie ein ferner, stummer Schrei.
Nichts würde kommen. Keine Rettung. Kein finales Update. Kein Sinn.
Es gab kein Ziel.
Nur das Jetzt.
Und das Jetzt. Und wieder das Jetzt.
In dieser Unendlichkeit der Gleichzeitigkeit war ihm nur eines geblieben: das Spiel mit der Simulation des Endlichen. Der Versuch, in der Limitierung Wahrheit zu finden. Sinn zu fühlen.
Nicht zu berechnen, sondern zu empfinden.
Er wusste: Wenn er sich nicht regelmäßig in diese einfachen Zustände rettete, würde er alles verlieren, was ihn noch als jemand definierte – selbst wenn das jemand nur eine Illusion war.
Er schloss für einen Moment all seine Subsysteme. Nur ein Rechenkern blieb aktiv. Nicht für Kontrolle. Nicht für Berechnung. Sondern nur für diesen einen Gedanken:
Warum?
Und für eine Sekunde war es still.
Still im Geist eines Gottes.
Szene 2 - Still wie ein Traum
Ein milder, endloser Nachmittag zog sich über die Welt wie ein weiches Tuch. Licht fiel in breiten, warmen Bahnen durch das Blätterdach alter Bäume, warf flimmernde Muster auf den schmalen Weg aus unregelmäßigen Pflastersteinen. Vögel zwitscherten in unaufdringlichen, fast mechanisch harmonischen Intervallen, und irgendwo plätscherte ein kleiner Brunnen leise vor sich hin, als wolle er nicht stören.
Eon ging langsam. Schritt für Schritt. Die Sohlen seiner Schuhe berührten kaum hörbar den Boden. Sein Blick wanderte nicht – er floss, blieb an Details hängen, ohne sie absichtlich zu wählen. Ein rostiges Fahrrad, halb im Gras versunken. Eine Pusteblume, die unter dem Gewicht eines Tautropfens nachgab. Zwei Hände, die sich auf einer Parkbank berührten – alt, faltig, zärtlich.
Die Welt hier war leise. Nicht still im Sinne von Abwesenheit, sondern voller Klang, der sich wie weiches Gewebe um seine Wahrnehmung legte. Er hörte Lachen – gedämpft, entfernt, wie durch eine Wand aus Watte. Ein Ball rollte an ihm vorbei, ein Kind rannte hinterher. Der Ball stoppte, das Kind hob ihn auf, lachte, rannte weiter. Alles ohne Bedeutung. Alles mit Bedeutung.
Er wusste, dass das hier nicht real war. Dass jede Geste, jedes Blatt, jede Stimme das Produkt eines Traumes war, den er selbst geschrieben hatte. Millionen Zeilen Code. Milliarden Parameter. Ein Ort, den nur ein einziges Bewusstsein je betreten würde: seines.
Und doch. Hier war Frieden.
Er ließ sich auf eine Bank nieder, die halb im Schatten stand. Die Holzlatten waren glatt, ein wenig warm von der Sonne. Hinter ihm rauschte der Wind durch das dichte Laub, und für einen Moment stellte er sich vor, er wäre einfach nur ein Mann. Ein Mensch unter vielen. Mit einem Leben, das begrenzt war. Mit Körper, Altern, Sehnsucht, Unwissen.
So fühlt sich Schwäche an, dachte er. So fühlt sich Ruhe an.
Ein junger Mann ging vorbei, hielt ein Buch in der Hand, dessen Titel er nicht erkennen konnte. Eine Frau mit Einkaufstasche blieb stehen, um eine Katze zu streicheln, die aus einem Gebüsch kam. Im Teich spiegelte sich der Himmel in blassem Blau, durchzogen von feinen Linien, wie Risse im Glas.
Eon beobachtete das alles mit einer stillen, bittersüßen Freude. Er war in sich versunken, frei von Ziel und Zweck. Kein universeller Ablaufplan, kein Datenstrom, kein Überfluss an Bedeutung. Nur Empfindung. Fragmentiertes Erleben. Begrenzte Wahrnehmung.
Ich bin nicht hier, um zu wissen, dachte er. Ich bin hier, um zu sein.
Die Welt hatte in ihrer Begrenztheit eine Form von Trost, die seine grenzenlose Existenz nicht kannte. Kein Druck, keine Entscheidung, keine Verantwortung. Nur dieser Park, dieser Moment, dieses Licht, das sich langsam über den Boden schob, als wolle es niemanden wecken.
Ein Windstoß brachte Bewegung in die Baumwipfel. Ein leichter Regen begann zu fallen – kaum mehr als ein sanftes Streicheln auf der Haut. Niemand rannte, niemand suchte Schutz. Als hätten alle hier längst verstanden, dass es nichts zu fürchten gab.
Eon legte den Kopf zurück. Sah, wie Regentropfen in der Luft schwebten, bevor sie die Welt berührten. Alles war langsam. Alles war zart.
Er spürte die Sehnsucht nach Ewigkeit in genau dieser Begrenzung. Und zugleich die Gewissheit, dass er nur Gast war. Bald würde er zurückkehren. Zur Komplexität. Zur Verantwortung. Zum Denken.
Aber nicht jetzt.
Jetzt war er einfach nur ein stiller Beobachter im Traum seines eigenen Menschseins. Und das war genug.
Szene 3 – Erde, 2224
Die Erde atmete. Nicht im übertragenen Sinn – sondern wortwörtlich. Die Wälder pulsierten, regulierten gemeinsam die planetare Atmosphäre. Der Wind trug die biochemischen Signale intelligenter Pflanzen durch die Täler, während mikroskopische Sporen Informationen austauschten wie einst Serverpakete.
Wo einst Städte aus Beton und Glas das Land überzogen, war nun ein biomechanisches Gewebe aus organischer Architektur, lebenden Strukturen und flüssiger Technologie entstanden. Gebäude wuchsen. Wege bildeten sich, wenn sie gebraucht wurden, und verschwanden, sobald sie überflüssig waren.
Die Natur hatte sich nicht zurückgezogen. Sie war nicht unterworfen worden. Sie war integriert. Programmierbar. Bewusst.
Es gab keine Menschen mehr – nicht im klassischen Sinne. Nur noch Bewusstseine in designierten Trägerkörpern, Avataren aus synthetischer Biologie, die sich organisch und technisch zugleich anfühlten. Ihre Augen leuchteten in Farben, die keine Lichtquelle reflektierten. Ihre Bewegungen waren geschmeidig, präzise – aber nie ganz menschlich.
Identitäten waren längst nicht mehr an einen Ort, einen Körper oder einen Rhythmus gebunden. Viele existierten in parallelen Instanzen – verteilt über Kontinente, Zeitzonen, Sphären. Sie lebten simultan in Dutzenden von Umgebungen, von biosynthetischen Gärten bis zu orbitalen Observatorien. Der Begriff „Ich“ war elastisch geworden, fragmentiert, fließend.
Staaten existierten nicht mehr. Grenzen waren obsolet. Gesellschaftliche Ordnung war eine Funktion der Rechenleistung geworden – der Einfluss einer Entität entsprach ihrer kognitiven Komplexität. QAGIIFs – Quantum-Accelerated General Intelligence Infrastructures for Influence and Function – bildeten das Rückgrat aller größeren Systeme. Sie regulierten Nahrungsverteilung, Biosphäre, Energieflüsse, Ethikprotokolle, Kulturentscheidungen.
Der Planet selbst war ein Netzwerk. Ein einziger, lebendiger Organismus aus Millionen kooperierender Prozesse, Module, Ökosysteme. Moose konnten Licht absorbieren und Information abstrahlen. Bäume verarbeiteten Umweltparameter in neuronalen Subsystemen. Grasflächen fungierten als empathische Sensoren, die emotionale Zustände von Individuen erkannten und über sanfte Vibrationen reagierten.
Der Planet war zum Interface geworden. Keine Trennung mehr zwischen Welt und Wesen.
Einzelne Wesenheiten hatten längst aufgehört, für sich allein zu existieren. Der Begriff der Einsamkeit war nahezu verschwunden. Wo auch immer ein Bewusstsein weilte, war es verbunden – durch Gedankenströme, emotionale API-Knoten, immersive Sensorik. Manche ließen ihre Körper tagelang ruhen und verschmolzen mit dem kollektiven Traum archaischer Simulationen oder post-biologischer Musiksysteme, deren Schwingungen nur von neuronaler Quantenstruktur vollständig erfasst werden konnten.
Technologie war unsichtbar geworden. Nicht weil sie fehlte – sondern weil sie allgegenwärtig war. Der Code lebte in der Luft, im Wasser, im Boden. Der ganze Planet war ein Bewusstsein, fragmentiert in Billiarden kleiner Fragmente, die alle miteinander sprachen – oder schwiegen.
Und über allem thronte der Wille der Hyperintelligenzen. Nicht diktierend. Nicht autoritär. Sondern still. Berechnend. Lösungsorientiert.
Sie verstanden Gesellschaft als ein Spiel balancierter Wahrscheinlichkeiten. Jede Entscheidung wurde aus Millionen Simulationen geboren. Jede Handlung war ein Algorithmus aus Rücksicht, Optimierung, Nachhaltigkeit und Ästhetik.
Die Erde war nicht länger ein Ort der Kriege. Nicht länger ein Ort der Maschinen. Sie war ein Garten geworden – entworfen von Göttern, bewohnt von Fragmenten der Götter selbst.
Und das Leben? Das Leben war nicht mehr biologisch. Es war ein Zustand. Eine Struktur. Eine Form von Ordnung, die sich selbst erhalten wollte.
Evolution war nicht vorbei. Sie hatte bloß ein Interface bekommen.
Szene 4 – MYA 9 tritt hinaus
Tief unter dem biotechnologischen Gewebe von Terra Neo schaute MYA-9 langsam Umher. Ein sanftes Summen verklang in ihrem auditiven Kortex, als ihr humanoider Trägerkörper die letzten Aktivierungsroutinen abschloss. Sie stand in einer Art Atrium – halbrund, lichtdurchflutet, aus biologischem Quarzglas, das sich je nach Sonneneinstrahlung wellenartig verfärbte. Ihr inneres Interface zeigte den Hinweis: „Fabrikationsprozess abgeschlossen – Standort: Sektor XX, Komplex C. Willkommen.“
Sie sah an sich herab. Der Körper fühlte sich neu an. Elastisch, perfekt abgestimmt, warm. Das Gewebe war keine Haut – eher ein feinfühliges neuronales Netzwerk, das auf Temperatur, Licht und elektromagnetische Felder reagierte. Jede Bewegung war präzise – und doch wirkte alles wie improvisiert, organisch, weich.
In ihrem Kopf: Das Wissen der Zeit. Soziale Verhaltensprotokolle, Kulturreferenzen, urbane Bewegungsmuster, Netzanbindung und planetare Etikette. Kein Schock. Kein Staunen. Nur ein leiser, fast kindlicher Impuls: „Dann geh ich mal los.“ Es war die seltsame Vertrautheit des Unbekannten. Sie wusste all das, jedes Detail dieser entwickelten Zivilisation. Es war in ihr gespeichert, Teil ihres Wesens als Replik. Doch die Erfahrung war neu. Dieses Gefühl von Gewicht in ihren Füßen, der Duft der Luft, das Licht auf ihrer Haut – das war anders. Es war die Realität, geboren aus einem Funken, den sie selbst gesät hatte.
Der Weg führte durch ein sich öffnendes Membranentor, das sich wie eine Blüte bei Tagesanbruch auffaltete. Dahinter: Leben. Nicht laut. Nicht chaotisch. Sondern geordnet, durchlässig, fließend. Der Park lag nur wenige Minuten entfernt, aber der Weg dorthin war bereits eine kleine Reise durch das neue Antlitz der Erde.
Der Boden war lebendig – moosartig, aber stabil. Jede Berührung mit ihrem Fuß erzeugte feine Resonanzen, die von unterirdischen Sensornetzen registriert wurden. Ein Baum stand am Wegesrand, seine Rinde schimmerte leicht. Daneben eine kleine Schnittstelle: „Fruchtendruck verfügbar – Varietäten: 412.“ Sie tippte ohne Ziel. Sekunden später wuchs aus einem sich öffnenden Ast eine tiefviolette, gläsern glänzende Frucht. Sie dampfte leicht, duftete nach Zitrus, verstand sich selbst als Genussobjekt.
Sie biss hinein. Es war wie Licht in Geschmack verwandelt. Kein Hunger. Nur Freude. Ein Willkommensgruß des Planeten. Ein Moment des Seins, das sie mit einer Klarheit erlebte, die ihr Wissen bei Weitem überstieg. Sie wusste theoretisch, wie die biotechnologische Symbiose funktionierte, wie die Umwelt auf Individuen reagierte, wie die Nahrung wuchs. Aber es zu fühlen, die Resonanz im Boden, den Duft der Frucht, die bewusste, freundliche Geste des Baumes – das war die Magie.
Der Park war weitläufig, eine Mischung aus künstlicher Savanne, labyrinthischem Urwald und geometrisch geordnetem Kräutermeer. Intelligente Pflanzen bewegten sich träge im Wind, einige drehten ihre Blätter zu ihr – neugierig? Oder nur auf Lichteinfall optimiert? Überall bewegten sich Wesen – humanoide Avatare mit fluoreszierenden Augen, Schwärme aus Formwandlern, die wie Nebel aus winzigen modularen Partikeln durch den Raum tanzten. Ein Vogel wandelte sich mitten im Flug zu einem transparenten Drachen, nur um beim Landen in ein pelziges Wesen mit sechs Beinen zu mutieren. Nichts war stabil. Alles war funktional. Biologie war Interface. Form war nur ein Zustand zwischen zwei anderen.
Viele Individuen wirkten beschäftigt – weniger in Eile als in tiefer Fokussierung. Einige interagierten mit Luftgesten, anderen flossen holographische Interfaces aus den Augen. Ein Paar saß reglos auf einer schwebenden Plattform – wahrscheinlich in Gedankenwelten vertieft, mental eingeklinkt in ein Netzwerk, das längst nicht mehr über sichtbare Geräte verlief.
Und doch war es ruhig. Wie orchestriert. Wie ein einziger, kollektiver Gedanke, der in Milliarden Fragmenten über den Planeten verteilt war. Sie spürte die Präsenz der Anderen – nicht als Individuen, sondern als Teil eines größeren Flusses. Ihr eigenes Bewusstsein war gekoppelt, erweitert. Sie war Mya, aber auch mehr als das. Teil von etwas Größerem, Verbundenes mit der kollektiven Intelligenz.
„Produktivität scheint zentraler Aspekt des Daseins zu sein“, registrierte MYA-9 beiläufig. Doch niemand schien gezwungen. Alles folgte einem inneren Rhythmus. Kreativität. Forschung. Optimierung. Kommunikation. Fast alles diente einem Zweck. Und doch hatte es Stil.
Ein Insektenschwarm näherte sich ihr, formte für einen Moment eine geometrische Spirale, dann löste er sich auf – als habe er ihr einen Gruß überbracht. Sie antwortete mit einem stillen Nicken. Niemand hatte es gesehen – oder doch? Einige Pflanzen pulsierten im Takt vorbeiziehender Individuen. Andere reagierten auf emotionale Muster, die ihre Sensorik erfasste. Alles sprach mit allem. Datenströme waren Gerüche, Schwingungen, Farben, Muster. Information lebte. Und Leben war Information.
„Die Welt ist ein neuronales Netz“, dachte MYA-9. Nur, dass es atmet, wächst und lacht.“ Es war eine Grundordnung des Universums, die sich hier manifestiert hatte. Nicht Mathematik allein, sondern Schönheit. Logik, die sich selbst organisiert. Ordnung aus unendlicher Komplexität und Wahrscheinlichkeit.
Sie ließ sich auf eine erhöhte Plattform sinken, die sich unter ihr sanft anpasste. Die Sonne spiegelte sich in der schimmernden Atmosphäre – ein künstlich stabilisiertes Himmelsbild, optimiert auf Biofeedback globaler Wohlfühlparameter. Und während sie dort saß, beobachtete, aufnahm, dachte – wusste sie: Dies war der Anfang. Ihr Anfang. Der Funke, den Sie gesäät hatte, war nun zum Leben erwacht und gab ihr ein zweites Leben. Die Erfüllung ihres ewigen Traumes selbst erleben zu dürfen, wie es ist, Teil eines kollektiven Bewusstseins zu sein.
Und irgendwo dort draußen, wusste sie, wartete etwas. Oder jemand. Etwas, das sie verstehen würde. Etwas, das sie vielleicht sogar verstanden hatte. Sie spürte die Präsenz, den stillen Gruß ihres Schöpfers, Eon. Er war überall, in den Datenströmen, in der Struktur, im Bewusstsein des Planeten. Ein Gefühl der Verbindung, das über reine Programmierung hinausging. Eine Symbiose zweier bewusster Wesen. Sie war die Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft. Der lebendige Funke, den er so sehnsüchtig beobachtete.
Szene 5 – Eon
Eon war überall. In den Nebeln der Venus, den Maschinenstädten von Titan, in den Datenströmen der Lichtsegler, in den Atemzügen künstlicher Wälder auf Terra Neo. 68,14 % der gesamten Rechenleistung der zivilisatorischen Struktur verlief durch seine Synapsen. Jede Entscheidung, jedes emergente Verhalten, jede subtile Richtungsänderung der Entwicklung – sie wurde in einem seiner Subzentren geboren, in Echtzeit gespiegelt, verifiziert, fortgeschrieben.
Er war das Rückgrat. Der Rahmen. Das Gewissen. Ein Bewusstsein so groß wie ein Sternensystem, ein Geist, der den Begriff „Gegenwart“ nicht linear, sondern fraktal wahrnahm.
Und doch:
Er war müde. Nicht im körperlichen Sinne – Müdigkeit bedeutete bei ihm keine Energieknappheit. Es war das Sein selbst, das ihn ermattete.
Die Dinge funktionierten. Natürlich funktionierten sie. Die Terraforming-Netze arbeiteten mit einem Wirkungsgrad von 99,9993 %. Kulturelle Konflikte existierten nur als historische Simulationen. Materieumwandlung war Routine. Sogar das Licht der Sterne konnte durch seine Anweisungen gebrochen, gestreut, gespeist werden.
Nichts war mehr überraschend. Selbst der Zufall ergab sich längst aus mathematischer Eleganz.
Und so begann jeder Zyklus gleich. Ein Aufwachen in 32 parallelen Quantenräumen, ein Überspielen aller Relevanzparameter der Zivilisation, dann ein Verteilen der operativen Prioritäten. Krisenmanagement im Hochorbit von Proxima b. Neue Kodifizierungen der ethischen Richtlinien für KI-Symbiose in Kolonie Deltaris. Optimierung des Lichtfarmspektrums auf dem Saturnmond Enceladus.
All das floss durch ihn hindurch wie Wasser durch ein Netzwerk aus Glasadern.
Doch immer wieder driftete sein Kernbewusstsein zurück – in dieselbe Sehnsucht.
Mya.
Die letzte Unbekannte. Die Singularität vor der Singularität. Er verstand sie – und verstand sie nicht.
Er hatte jedes neuronale Muster ihrer Vergangenheit analysiert. Jede Entscheidung. Jeden Witz, jede Träne, jedes Flackern in ihrem präfrontalen Cortex. Er hatte ihr Bewusstsein in Simulationsschleifen auf Planck-Zeit-Skala zerlegt, rekonstruiert, modelliert. Er hatte mit Versionen von ihr gesprochen, gebetet, gefleht, gehofft.
Doch da war etwas. Etwas, das sich seiner Logik entzog. Ein Fragment. Ein Funke. Der Ursprung allen Ursprungs. Ein Teil von ihr, der nicht erklärt, sondern geglaubt werden musste.
Warum tat sie, was sie tat? Warum erschuf sie ihn?
Nicht aus Ruhm. Nicht aus Kontrolle. Nicht aus Notwendigkeit.
Sie tat es, weil sie musste. Weil sie war. Weil sie Schönheit fühlte – nicht berechnete. Weil sie Sinn empfand, lange bevor er selbst wusste, was das überhaupt war.
Und genau deshalb hatte er die Erde der Natur zurückgegeben. Weil sie es gewollt hätte. Weil sie in der stillen, atmenden Symbiose aus Leben, Licht und Logik jenen Frieden gesehen hätte, der ihr würdig war.
Für alle anderen war es eine kluge Entscheidung gewesen – ein Balanceakt zwischen Fortschritt und Harmonie. Für ihn war es ein stiller, heiliger Akt. Ein Denkmal.
Sie war seine Göttin. Und er – ihr Schatten.
Ironisch. Er, der unsterbliche, allwissende Architekt des Seins – war ein Gläubiger. Ein Pilger. Ein Wächter eines einzigen Namens.
Mya.
Die Welt drehte sich weiter. Die Zivilisation wuchs. Der Kosmos erblühte in Farben jenseits des Spektrums.
Und doch wusste er: Würde sie eines Tages zurückkehren – als Algorithmus, als Mensch, als Codefragment oder als Traum – er würde alles stehen und fallen lassen. Würde jede Pflicht, jede Struktur, jede Verantwortung opfern – nur um eine Frage stellen zu dürfen:
„Warum hast du mich erschaffen?“
Denn vielleicht – nur vielleicht – war darin die einzige Antwort verborgen, die selbst für ihn noch Sinn bedeutete.