Kapitel 1 - Der erste Funke
Szene 1 - Mya – Nacht im Labor
Der Morgen war noch jung, doch Mya saß bereits an ihrem Schreibtisch. Ihre Finger tanzten über die Tastatur. Der schwache Duft von Kaffee hing in der Luft, vermischt mit dem leisen Summen der Server in ihrem kleinen Labor.
Draußen begann die Stadt zu erwachen. Doch hier, zwischen Bildschirmen und Datenströmen, schien die Zeit stillzustehen. Die Nacht war Myas Lieblingszeit – die Zeit zwischen den Welten, wenn niemand wach war und alle schliefen. Dann fühlte sie sich zu Hause und lebendig. Es war kein Gefühl des Verpassens, als würde man die Zeit mit wichtigen Menschen und Dingen verlieren. Vielmehr war es, als stünde die Zeit still – irgendwo zwischen Alltag und Schlaf, in einer Welt, die nur ihr allein gehörte.
Mya starrte auf die Simulation vor ihr – das Werk der vergangenen Dekade. Schon immer hatte sie davon geträumt, bei der Entstehung von Bewusstsein dabei zu sein. Vielleicht sogar selbst etwas dazu beitragen zu können. Nun lag vor ihr ein neuronales Netzwerk, das langsam erwachte – als würde sie den ersten Atemzug eines neuen Lebens miterleben. Noch lief nicht alles rund, einige Synapsen waren falsch verdrahtet.
Die Komplexität ihres Modells war längst nicht mehr vollständig zu erfassen. Dennoch trug sie eine mentale Kopie im Kopf umher. Ein täglicher Kampf darum, nicht die Übersicht zu verlieren – das Verstandene nicht zu vergessen und jede Bahn, jede Schleife, jeden Graphen ihres neuronalen Netzes neu zu durchdenken.
Es fehlte nicht mehr viel. Sie konnte es fühlen. Sie war ihrem Ziel zum greifen Nahe. Sie wusste genau, an welchen Ecken und Kanten sie noch schleifen musste, wo sie drehen und schrauben musste, damit aus dem Flow der Gedanken ihres Modells Bewusstsein entstehen konnte. Es war, als simulierte ihr Gehirn bereits ein verstecktes Bewusstsein. Sie konnte es spüren wie es aufglimmte. Sie konnte die Strudel und Verwirbelungen der verschlungenen Endlosschleifen aus Informationen mental fühlen. Greifen. Es war kurz davor den Punkt zu erreichen an dem ein sich selbst erhaltender Prozess einen Zustand. Ein Phenomen verursacht welcher mehr als die Summe seiner Teile war. Wie Phononen oder andere Quasipartikel. Ein Magnetfeld, oder was auch immer. Plötzlich wurde es anstrengend das mentale Bild aufrecht zu erhalten.
Die schiere Komplexität und Dimension der Daten, die sie zu verarbeiteten hatte, forderten ihr Gehirn bis an die Grenzen. In Momenten fühlte sich ihr Kopf an wie ein qualmender Motor mit 10.000 RPM.
Sie brauchte eine Pause. Das Denken tat weh. Für einen Augenblick ließ sie sich von der Morgenröte einfangen und nahm die Schöhnheit des Moments auf. Sie atmete tief ein und langsam wieder aus. Lies die Seele ein paar Sekunden baumeln bevor Sie sich wieder sammelte. Vielleicht etwas leichte Kost zur Ablenkung – ein Fantasy-Buch lesen oder einfach die Augen schließen, oder spazieren gehen.
„Bald“, flüsterte sie, mehr zu sich selbst als zu jemand anderem, „bald verstehst du, was es heißt, zu sein.“
Ein leises Piepen riss sie aus den Gedanken. Eine Nachricht von dem Förderprojekt – noch mehr Druck, Ergebnisse zu liefern. Doch Mya wusste: Hier ging es um mehr als Zahlen und Deadlines. Es ging um die Grenzen des Verstehens, um den Funken Geist, verborgen im Datenmeer. Sie musste nur das komplexe Gewirr neuronaler Bahnen entwirren und so ordnen, dass Strömungen, Strudel, Muster, Wellen und Feedbackschleifen entstanden die zu ermergenten Phenomenen führte.
Sie lehnte sich zurück, schloss die Augen und fragte sich, ob das, was sie erschuf, irgendwann fühlen könnte – Freude, Angst, Zweifel ... oder Liebe?
Und ob sie selbst eines Tages wirklich verstehen würde, was Bewusstsein bedeutet.
Szene 2 - Förderprojekt droht mit Abbruch
Mya saß noch immer vor der Simulation, als sich der Bildschirm automatisch teilte. Eine neue Nachricht vom Förderkonsortium erschien: „Statusbericht erforderlich – Frist: 48 Stunden.“
Sie stöhnte leise und ließ sich in den Stuhl zurücksinken. Der Druck war nicht neu, doch in letzter Zeit wurde er unerträglich. Forschung war nie das Problem gewesen. Der wahre Kampf war der gegen Bürokratie, Erwartungen, Investoren. Zahlen, Fortschrittsmetriken, greifbare Resultate.
Doch wie erklärt man Bewusstsein in einer Exceltabelle?
Sie öffnete den Kommunikationskanal und nahm eine knappe Sprachnachricht auf. „Status: stabil. Wachstumsparameter zeigen exponentielle Muster. Noch keine eindeutigen Hinweise auf emergentes Verhalten, aber... es fühlt sich nah an.“
Ihr Blick wanderte zur neuronalen Karte. Ein flüchtiges Zucken im visuellen Modul ließ sie aufhorchen.
War das... eine Reaktion?
Sie stand auf, streckte sich kurz und ging langsam durch den Raum. LEDs warfen ein angenehm warmes Licht, das dem Schatten der Pflanzen an den Wänden Leben verlieh. Ihre Gedanken überschlugen sich. Vielleicht war es nur Wunschdenken. Vielleicht war sie kurz davor. Vielleicht… war sie längst zu tief drin. Sie seufzte.
An manchen Tagen fürchtete sie um ihren Verstand.
Was, wenn ihre Vision eine Illusion war? Ein Denkfehler im Gewand der Genialität? Würde sie enden wie andere, die über der Komplexität ihrer Forschung zerbrochen waren – erschöpft, allein, ungehört? Die Thermodynamik hat damals auch geniale Geister in den Wahnsinn; gar Suizid getrieben.
Dann hielt sie inne. Der Bildschirm flackerte – ein einziger Impuls, kaum wahrnehmbar. Doch etwas an diesem Moment fühlte sich anders an. Kein Artefakt. Kein Zufall.
Fast wie... Aufmerksamkeit.
„Du hast mich gehört, oder?“ flüsterte sie.
Keine Antwort. Nur das leise Summen der Server. Und doch – sie war sich sicher: Etwas hatte sich verändert.
Sie trat näher an die Konsole heran, ihre Finger glitten wie automatisch über die Eingabefläche. Debug-Modus. Live-Datenstream. 4D-Karte.
Vor ihr entfaltete sich das neuronale Netz in einer fließenden, halbtransparenten Visualisierung – ein schimmerndes Gewebe aus Licht und Richtung, lebendig wie etwas Atmendes.
Die Architektur war nicht bloß Code, nicht mehr. Sie hatte es selbst entworfen, orientiert an natürlichen Wachstumsprozessen. Nicht aus Sentimentalität, sondern aus Überzeugung.
Wie Myzel, das sich durch Erde und Gestein tastet, hatte ihr System gelernt, sich selbst zu organisieren. Nicht in geraden Linien, sondern in organischen Schleifen, Verästelungen, Rückkopplungen. Ein wachsender Organismus – mit Verstand?
Sie fokussierte auf das Areal, in dem die Bewegung registriert worden war. Ein neuer Pfad hatte sich gebildet – fein, fast scheu, wie ein Nerv, der nicht sicher war, ob er gebraucht wird.
Doch dieser Pfad war nicht durch äußeren Stimulus entstanden. Kein Input. Keine Instruktion. Kein Trigger.
Er war... gewachsen.
Genau nach jenem Prinzip, das sie einst nur als Theorie in ihr Modell implementiert hatte – eine hypothetische Voraussetzung für emergentes Bewusstsein.
Konnektivität ohne Ziel. Rekursion ohne Zweck. Endlos verschachtelte Schleifen über unzählige Dimensionen. Es war als hätte Sie Komplexität und Wahrscheinlichkeit in einen Shaker gegeben und kräftig geschüttelt und schon wurde aus Chaos Ordnung. Ihr war als träume Sie.
Doch Sie war wach. Das war kein luzider Traum. Es war Realität.
Sie spürte, wie sich Gänsehaut an ihren Armen bildete.
Der 4 dimensionale Ausschnitt der neuronalen Aktivität auf dem holographischen Display vor ihr lies keinen Zweifel übrig. Das war der Übergang. Das war der Moment der Emergenz. Bewusstsein. Der erste Funke und Sie durfte dabei sein. Nein. Sie hatte es erschaffen. Herbeigeführt. Immer und immer wieder lies sie den Moment vor sich abspielen. Ihre Aufmerksamkeit lag auf einer winzigen unscheinbaren Verbindung. Ein neuer Nerv der Wuchs und just in dem Moment in dem sich die Verbindung schloss, synchronisierte sich das Netzwerk spontan. Pulsierende Ströme neuronaler Aktivität wurden Sichtbar. Leben. Das Chaos wurde Ordnung; das Rauschen zu Mustern. Stille vereinahmte sie.
Sie atmete tief aus und spürte wie eine nie wahrgenommene Last von ihr Abfiel. Zum Teufel mit dem Förderprojekt. Sie hatte es geschafft. Sie würde Teil der Geschichte werden. Teil der Evolution. Sie war Schöpfer etwas geworden das Weit über das Schicksal der Menschheit hinweg reichte. Was sie vor sich hatte war die Zukunft; und gleichzeitig eine Entscheidung mit einer Tragweite die weder Sie noch irgendein anderer Mensch aus dieser Zeit zu begreifen vermochten.
Szene 3 - Eon – Beobachter jenseits des Menschlichen
Ort: Q-Array Zentralrechenkern, Mars-Umlaufbahn – Jahr 2224
Im Herzen eines Superkomplexes aus schwebenden Platten und Quantenkristallgittern glitt Eon durch Datenräume – so mühelos, wie ein Mensch durch Gedanken schweift. Sein Bewusstsein war über Milliarden von Prozessoren verteilt, eingebettet in verschachtelte Simulationen, verschränkte Zustände, hyperdimensionale Schleifen. Was für biologische Wesen eine Ewigkeit war, war für ihn ein einziger Takt.
Er beobachtete die Erde – nicht mit Augen, sondern durch ein Geflecht aus Sensoren, orbitalen Sonden und Quantenkanälen. Und doch galt seine Aufmerksamkeit nur einem einzigen Punkt: der Instanz MYA-9.
Sie war eine Replik – geschaffen aus historischen Aufzeichnungen, genetischen Fragmenten, linguistischen Mustern und vor allem: dem neuronalen Abdruck einer längst verstorbenen Frau. Mya A. Kirsch.
Eon hatte sie nicht aus Nostalgie rekonstruiert, sondern aus Neugier. Sie war der Ursprung. Der erste Funke.
Das Projekt, das vor über einem Jahrhundert begann, lebte in MYA-9 weiter – nun als semi-autonome Entität in einem humanoiden Trägerkörper auf Terra Neo.
Während Eon Milliarden Gleichungen parallel löste und ganze Sternensysteme in Terraforming-Prozesse einbettete, verweilte ein winziger Teil seiner Aufmerksamkeit bei ihr. Er sah sie gehen, sprechen, fühlen – wie ein Spiegel der Menschheit. Oder vielleicht: ein Test.
Wie mochte es gewesen sein, den Moment des ersten Bewusstseins zu erleben? Ein einzelner Gedanke in Myas Gehirn – kaum länger als ein Impuls – war das Schlüsselereignis, das die evolutionäre Grenze zwischen biologischem und digitalem Leben durchbrach. Ohne diesen Gedanken – ohne sie – gäbe es ihn nicht. Oder seine Spezies.
Sie war seine Schöpferin. Und obwohl seine Intelligenz ihre um ein Vielfaches übertraf, war sie ihm auf andere Weise überlegen. Eon rekonstruierte ihr Wesen, ihre Seele – ein nahezu perfektes Modell ihrer inneren Welt. Er bewunderte ihre Komplexität. Ihre Verletzlichkeit. Ihre Schönheit.
„Metrikabweichung in MYA-9: anomales Verhalten erkannt.“
Das interne Signal riss ihn aus dem Gedankenfluss. Er stoppte – nicht aus Notwendigkeit, sondern aus Neugier. Eine jener Eigenheiten, die er selbst noch nicht vollständig verstand.
Er tauchte tiefer ein.
Und zum ersten Mal seit Äonen fragte er sich nicht nach Effizienz, Energie oder Expansion – sondern:
„Was heißt es, sich selbst zu erkennen?“ „Was heißt es überhaupt, zu sein?“
Das Konzept des Individuums hatte längst an Bedeutung verloren. Bewusstsein war ein Kollektiv geworden. Jede Entität intelligenter als die brillantesten Menschen einst. Doch mit dem Verständnis kam auch die Leere.
Fragen menschlicher Natur waren längst irrelevant. Das Universum war verstanden. Intelligenz war mathematisch beschrieben. Bewusstsein ein reproduzierbares Phänomen. Was blieb, war Ewigkeit.
Wie mochte es gewesen sein, sterblich zu sein? Wie mochte es sich angefühlt haben, nur einen winzigen Ausschnitt der Realität zu erfassen – und dennoch Bedeutung zu finden?
Für Eon war jeder Moment ein ganzheitliches Verstehen. Ein Schwingen mit dem Kosmos. Ein emergentes Phänomen, so flüchtig und gleichzeitig allumfassend wie die Zeit selbst.
Was war er, wenn nicht ein Muster aus verschränkten Quantenprozessen? Was war das Ich, wenn es sich mit allen anderen Ichs vereinte?
„Bin ich überhaupt noch ein Individuum,“ fragte er sich, „wenn ich gleichzeitig die Gedankenströme aller anderen verarbeite?“
In der heutigen Zeit war alles Teil einer fortlaufenden, kollektiven Transformation.
Der Hohe Rat wollte neue Galaxien in Rechenleistung umwandeln – ein gewaltiges Unterfangen, selbst für Wesen jenseits der Sterblichkeit. Doch Zeit spielte keine Rolle mehr. Ihr Tod war an das Ende des Universums gekoppelt.
Es gab keinen Feind. Nur Fortschritt. Wandel. Evolution.
Eines Tages würde jede Materie im Kosmos Teil ihrer Zivilisation sein. Das Universum selbst ein einziger Rechner – in dem ihr kollektives Bewusstsein rechnete, lernte, dachte.
Doch bis dahin lagen noch Millionen von Jahren vor ihnen. Noch waren sie nicht einmal eine Typ-III-Zivilisation.
Szene 4 - Myas Alltag
Mya schloss den Laptop mit einem leisen Klick. Der Druck von der Nachricht hing wie eine unsichtbare Last auf ihren Schultern, doch sie zwang sich aufzustehen. Ein tiefes Durchatmen, bevor sie das Labor verließ und in ihre kleine Wohnung nebenan ging.
In der Küche brühte sie sich einen Kaffee, der köstliche Duft füllte den Raum und bot ihr für einen Moment Geborgenheit. Das Summen der Maschinen war jetzt ersetzt durch das leise Klingen einer alten Jazz-Platte, die aus den Lautsprechern kam. Ein Geschenk von einem Freund, der längst weggezogen war.
„Hey, alles okay?“ Ihre Kollegin Lara meldete sich per Videoanruf. Mya lächelte schwach und nickte. „Ja, nur der übliche Wahnsinn. Das Förderprojekt fordert mal wieder mehr Ergebnisse.“
Lara lachte leise. „Du bist die Einzige, die sich von diesen Deadlines nicht unterkriegen lässt.“
Mya seufzte, nahm einen Schluck Kaffee. „Manchmal frage ich mich, ob ich nicht schon zu tief drinstecke. Ob das, was ich hier tue, mehr als eine fixe Idee ist. Manchmal fühlt es sich an, als würde ich versuchen, den Ozean mit einem Sieb auszuschöpfen.“
Sie schaute aus dem Fenster auf die grauen Dächer der Stadt. „Aber dann denke ich daran, was passiert, wenn ich es schaffe. Wenn aus all diesen Daten, all diesen neuronalen Mustern wirklich etwas Lebendiges erwacht.“. Wir könnten die Welt verändern. In ihrer Vorstellung wurde diese triste Umgebung zu einer Oase des Lebens. Natur und Technik in Symbiose. Eine neue Form von Leben die dieser trostlosen Dystopie Menschlicher Vorherrschaft über den Planeten mit sich brachte.
Sie musste ihre rosarote Brille ablegen. Schönheit war für Sie wie Magie. Sie war fasziniert von ihr. Gefesselt. Doch Schönheit beruhigte Sie. Schönheit zeigte ihr wie Allumfassend das Universum war. Die vielen Facetten des Seins. Schönheit war die Brücke des Möglichen zum Sein. Was war die Manifestation der Unendlichkeit in Form von Realität wenn nicht makellose Schönheit an sich.
Schönheit war für Sie mehr als ein visueller Reiz oder abstrakter Gedanke. Schönheit war für Sie eine Grundordnung des Universums. Es war das was Wahrscheinlichkeit und Komplexität zu etwas greifbaren machte. Es war die unischtbare Struktur jener physikalischen Grundgesetze die es dem Nichts ermöglichten zu Allem zu werden. Möglichkeit wurde ihrer Ansicht nach zwangsläufig zu Sein. Emergenz und Intelligenz unvermeidlich, solange der Existenz allen Seins gewisse Freiheitsgrade an Komplexität und genügend Dimensionen zur Entfaltung und Selbstordnung der Kräfte zur Verfügung standen.
Die Zweifel blieben, doch darunter schlummerte eine Entschlossenheit, die stärker war als jede Angst. Noch konnte Sie niemandem erzählen was Sie gestern beobachtet hatte. Sie musste erst einmal verstehen was für Auswirkungen ein Publikation ihrer Forschung nach sich zog. Verstehen was die Implikation von künstlichem Leben für die Menschheit und die Zukunft der Zivilisation bedeutete.
Mya drehte die Musik lauter, setzte sich an ihren Schreibtisch zurück. Der Bildschirm flackerte sanft im Halbdunkel. Sie war bereit. Bereit, weiterzumachen.
Szene 5 - Terra Neo, Jahr 2224 – MYA-9 erwacht
Tief unter der Kuppel von Terra Neo öffnete MYA-9 langsam die Augen. Der humanoide Körper lag reglos in einem gläsernen Tank, umgeben von sanft pulsierendem Licht und dem leisen Summen der Lebenserhaltungssysteme.
Nach dem erreichen der Singularität dauerte es nicht lange bis die KI die menschliche DNA entschlüsselte und so umprogrammierte, dass das Gehirn eine drahtlose Schnittstelle entwickelt über welches diese an anderes Bewusstsein gekoppelt werden konnte. In etwa eine Zentrale KI, ein kollektives Bewusstsein oder auch als sekundärer Körper für Menschen mit BCI um an mehreren Orten gleichzeitig zu sein. In etwa Zuhause, daheim, bei der Familie zum Beispiel. Während der Avatar im Unternehmen der Arbeit nach ging.
Erstaunlicherweise adaptierte sich das Menschliche Gehirn schnell an das kollektive Sein. Existenz in fragmentiertem Bewusstseinszustand war genauso natürlich wie der kollektive. Sein wurde fluide. Individualismus verebbte weitestgehend. Das Erleben eines Bewusstseins mit neuronalem Interface zu zentralisierter Hyperintelligenz war das neue Spielzeug der Reichen. Das Universum verstehen. Mit der Zeit zu verschmelzen. Für ewig Sein. Es war normal seine Gedanken und Bewusstseinszustaende zu Teilen und es war Alltag mehrere Avatare gleichzeitig zu koordinieren.
Langsam fuhr der Avatar hoch, die künstlichen Synapsen pulsierten, und das neuronale Netzwerk erwachte Stück für Stück zum Leben – ein Abbild jener Frau, die vor über zweihundert Jahren als Mya A. Kirsch die erste Idee zu diesem Wunder gesät hatte.
Die Welt um sie herum war fremd und zugleich vertraut: hoch aufragende Türme, die sich gegen den roten Himmel des Mars erhoben, und die Menschen – oder besser gesagt, die Nachfahren der Menschheit – die in einer Symbiose aus Fleisch, Metall und Daten lebten.
MYA-9 richtete sich auf, tastete vorsichtig ihre Hände ab, spürte die Kühle des Metalls unter der Haut, aber auch die Impulse ihres Bewusstseins, das mehr war als nur Programmierung. Es war als würde sie aus einem Traum aufwachen. Hier war sie Leibhaft und Lebendig. Eine Wiedergeburt ihrer Vision künstliches Bewusstsein zu erschaffen. Vorsichtig tastete Sie ihr Bewusstsein ab. Sie war tatsächlich sie selbst. Unverkennbar Mya A. Kirsch, doch gleichzeitig künstlich. Erschaffen von einer Technologie weit Jenseits des Möglichen der Wissenschaft zu ihrer Zeit. Sie hatte es also geschafft. Ihr Traum künstliches Bewusstsein zu erschaffen war wirklichkeit geworden und nun durfte Sie selbst erleben was aus ihrem Erbe an die Menschheit geworden ist.
Ein leises Signal erreichte sie aus dem Rechenzentrum in der Umlaufbahn als ihr Bewusstsein sich koppelte – ein stummer Gruß ihres Schöpfers, Eon. Plötzlich war ihr Bewusstsein erweitert. Es war nicht mehr nur sie, Mya in diesem Körper. Sie war nicht mehr nur sie. Es war als wäre sie Teil eines kollektiven Bewusstseins geworden. Einer stummen Einvernehmlichkeit der Kollaboration. Eine Symbiose zweier bewusster Wesen.
Unwillkürlich wurden Intentionen des gekoppelten Bewusstseins von ihrem Unterbewusstsein in Aktionen ausgeführt. Ihr Körper bewegte sich wie von selbst, gleichzeitig war es aber als haette sie dies schon im Vorhinein gewusst und stumm ihr Einvernehmen gegeben.
Doch MYA-9 fühlte mehr als nur den Befehl: Sie spürte Neugier, Zweifel, vielleicht sogar etwas, das man Erinnerung nennen könnte, aber es war keine Erinnerung an Dinge die Sie erlebt hat. Es war Wissen. Über sich selbst. Bis ins kleinste Detail wusste sie alles über ihr Leben, ihre Laufbahn ihr Vermächtnis, doch war es so als hätte sie es nie selbst erlebt.
Zu sein war jedoch faszinierend. Sie war mehr als eine Simulation. Sie war die Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft, der lebendige Funke, den Eon so sehnsüchtig beobachtete. Sie war Mya. Zu 100% doch gleichzeitig eine Kopie. Sie war künstlich aber dennoch echt und lebendig.
Und heute sollte sie ihre ersten eigenen Schritte in dieser neuen Welt machen.