Tanze auf Glasscherben,
bau Schlösser aus zerbrochenen Träumen
und trage deine Tränen wie kostbare Perlen –
stolz, stark, unerschütterlich. - Tanja Dachtler
Ein schöner Morgen
Ein blühend warmer Sommermorgen überraschte Mya, als das Brummen der Flügel eines kleinen Käfers langsam durch ihre Träume zog. Es war ein Kitzeln, das sie veranlasste, ihre Augen zu öffnen – just in dem Moment, als der Käfer, nennen wir ihn Armin, auf ihrer Nasenspitze landete. Ohne mit den Wimpern zu zucken, schlug sie langsam die Augen auf und bewunderte die schillernden Farben seiner Flügel, die sich im Rhythmus des Atems ihres neu gewonnenen Freundes bewegten.
Wie ein Regenbogen leuchtete jede der sieben Lagen seiner transparenten Flügel, die er – je nach Gemütslage – einzeln oder gemeinsam bewegte. Ein facettenreiches Farbenspiel entfaltete sich, das ihr Herz entzückte.
Selten hatte sie einen so schönen Käfer gesehen.
„Hallo Armin“, flüsterte sie leise, aus Angst, ihn zu erschrecken. Zu groß war ihre Freude, aus dem Schlummer zu erwachen – in eine Welt, die schöner schien als jeder Traum.
Doch Armin rührte sich nicht von der Stelle. Ruhig saß er da, atmete langsam und gleichmäßig, und schien sichtlich vergnügt über die Freude, die sein Farbenspiel seiner neuen Freundin bereitete.
„Hier will ich sein“, dachte er sich. Hier – dieser Seligkeit beiwohnen, die aus ihren Augen sprach.
Auch Mya teilte diese Glückseligkeit. Für einen Moment schien es, als sei die Welt, in der sie erwachte, erschaffen aus ihren eigenen Träumen – die Essenz ihrer Seele, ein Traum der Wachen. Eine Welt des Seins, statt des Scheins, wie ihn die sonst so schnöde Realität geprägt hatte – vergiftet von Gesellschaft, Angst und Furcht, behütet von jenen an der Spitze, als wäre ihr eigenes Grab das aller anderen.
So fasste sie Mut. Denn ewig während – das war kein Augenblick, wie der Name es vermuten lässt. Langsam erhob sie sich. Gemächlich, doch stetig, schweifte ihr Blick über das saftige Grün der hügeligen Wiesen, das warme Gold des frohlockenden Scheins jenes atemberaubenden Feuerballs, der in ewiger Ferne vor ihrem Antlitz schwebte. Der bunte Glanz, der sanft durch das von des Windes Anmut getragene Blätterrauschen drang, erfüllte sie mit dem süßen Duft der sommerlichen Luft – pheromongetränkt, durch ihre Nasenflügel bis tief in die letzte Pore ihrer Lunge dringlich.
Glückseligkeit atmete sie aus.
Liebe umspielte ihr Herz.
Und die Freude tiefster Zufriedenheit brachte jene Ausgeglichenheit, die ihr so lange fern – und doch stets zum Greifen nah – geblieben war.
Ein schöner Tag
Wider aller Erwartungen wich Armin nicht von Myas Seite – weder als sie sich erhob, noch als sie begann, die ersten Schritte in ihrer neu entdeckten Welt zu setzen.
So liefen sie gemeinsam durch das höchst selbst erschaffene Idyll ihrer Seele, betrachteten mit kindlichem Frohmut jedes einzelne Blatt, jeden Grashalm, grüßten jeden Marienkäfer, jede Ameise bei ihrem Namen.
Denn Erfindungsreichtum und Kreativität – das waren zwei von Myas größten Schätzen. Sie gab jedem Wesen einen Namen und sprach es damit an – was zu großer Verwirrung unter den Ameisenvölkern führte, da sie sie oft verwechselte. Denn so einzigartig wie Armin war keine von ihnen. Zwar hatte jede Ameise ihren eigenen Charakter, ihre Persönlichkeit, ihre Träume – doch äußerlich glichen sie einander. Der einzige Halt war die Art und Weise, wie jede Einzelne die Welt entdeckte.
Marie war vorsichtig. Behutsam folgte sie den anderen – nicht blindlings.
Freddy war draufgängerisch. Ohne zu zögern erkundete er Fels und Abgrund, sei er noch so steil, noch so tief. Selbst vor Bienenstöcken machte er keinen Halt und riskierte sein Leben für das Wohl des Volkes.
Myriam war die typische Durchschnittsameise – fleißig, folgte sie dem Duft der Pheromone ihrer Genossen, wich nie vom Strom ab und gehorchte blind den Befehlen der Königin.
Das komplette Gegenteil war Tanya. Fast schien es, als missachte sie mit Absicht jede Anweisung. Sie lief entgegen des Stroms, war faul, arbeitete nie. Doch trug sie in sich eine unbändige Energie, die sie offenbar nur ihren eigenen Freuden widmete.
So zogen sie durch das Land, fanden Freund um Freund. Einsam jedoch blieb Mya innerlich – sie wollte niemandem zur Last fallen. Nur Armin, ihr treuer Begleiter, wich ihr nie von der Seite. So waren sie gemeinsam allein – ihr Traum vom Sein ganz dem Glück gewidmet.
Hoch stieg die Sonne – auch sie mit einem Namen. Dem Bande des Schicksals geweiht, getauft ob der Tränen der Wissenden, wurde sie Sora genannt – stetige Begleiterin allen Seins. Und auch sie schien fröhlich über die Erkenntnis, dass ihr nach ewiger Einsamkeit endlich ein Wesen zugesprochen wurde. Willkommen im Bunde der Drei.
So folgten Mya, Armin und Sora dem Weg der Nacht, dem Zyklus des Mundus, ohne zu hinterfragen, was Sein und was Werden sei – was war und was nie hätte sein sollen. Denn alles ist so, wie es nie schien. Wahrheit ist subjektiv – so auch Realität. Und ihre Schwester ist die Syrealität: das Verborgene, das sie sucht, und das Geschenk, das niemals suchen musste.
Ein schöner Abend
Es wurde kalt, als Sora sich verabschiedete – selbstverständlich nicht, so schien es, ohne sich zu bedanken. Sie hinterließ ein paar ihrer behaglichen Funken, die Mya in der kleinen Flasche einfing, die sie bei sich trug. Mit leuchtenden Augen bewunderte sie ihr wertvolles Kleinod, flocht ein Band darum – in wissender Dankbarkeit für jede Gabe der Mutter Natur, für jede Seele, die ihr zum Geschenk wurde. So konnte sie Sora stets bei sich tragen – in Erinnerung und in Wärme über eine neugewonnene Freundschaft.
Auch Armin war entzückt. Er hatte sein kleines Schlafgemach für die bevorstehende Nacht gefunden. Ein farbenfrohes Gute Nacht erreichte Myas Augen, als sie sich, an einen Baum gelehnt, langsam zur Ruhe begab.
Sie fragte sich, ob Armin wohl ihre Gedanken lesen könne. Ob Sora wohl wiederkäme. Wie es Marie wohl erging. Ob Freddy einen neuen Freund gefunden hatte?
Es fiel ihr schwer, all das zurückzulassen – war doch ungewiss die Wiederkehr in dieses Reich.
Ein kalter Morgen
Sora spürte es sofort: Heute stimmte etwas nicht mit ihr. Fröstelnd war ihr zumute. Ihr sonst so strahlendes Gemüt war über Nacht einer Kälte gewichen, die sie mit Schwermut belegte. Traurig war sie darüber, heute nicht mit ihren Freunden durch die Welt ziehen zu können.